Seid Euch nicht so sicher!

Redet miteinander! Lernt!

Bei einer Neuauflage des SENSS-Awards muss genau überlegt werden, was wir inhaltlich wollen. Ich tendiere dazu, gar nicht so sehr in Richtung "Streitkultur" zu gehen (das machen viele andere inzwischen gut, z.B. www.streitgut.com) sondern in die Richtung "Umgang mit Unsicherheiten". Doch das muss diskutiert werden.


Ebenso tendiere ich dazu, auf eine teure Präsenz-Veranstaltung zu verzichten, und viel mehr Mittel in virtuelle und in Social Media - Aktivitäten zu stecken.


Vielleicht sogar ein SENSS-Institut / Stiftung gründen?


Panikbremse: Zu viele Zeitgenossen haben verstanden, dass man durch schüren von Panik oft erreichen kann, dass die Menschen in die von Ihnen gewünschte Richtung laufen

„Als wir in der Schule die negativen Zahlen lernten, konnte ich nicht akzeptieren, dass -5 kleiner ist als -3. Hätte ich das für mich behalten, wäre ich durchgefallen. Aber da ich in einem Klima groß geworden bin, in dem ich nie Angst hatte, meine Meinung zu vertreten, habe ich vehement protestiert. Der Lehrer ließ sich auf mich ein, fand heraus, warum ich so dachte und gab eine Erklärung, die mir weiterhalf. Ich hatte Glück mit meinen Lehrern; es war hoch angesehen, auch abweichende Meinungen zu vertreten. Man hat dann darüber geredet.“ (Reinhard Wiesemann, Gründer des Unperfekthauses)


Genau das brauchen wir heute mehr denn je. Und finden es immer weniger, im Gespräch mit Fremden oder sogar Freunden, in Zeitungen, Talkshows,… vom besinnungslosen Dauerfeuer auf Twitter, den Kommentaren auf Facebook ganz zu schweigen. Mit jedem Schimpfwort, jedem hasserfüllten Posting, wächst die Wut. Nimmt das Schweigen zu. Und das ist das Letzte, was wir brauchen.

Wir brauchen Mut. Den verdammten Mut, jemand zuzuhören, auch wenn man seine Meinung nicht teilt, ihm nicht ins Wort zu fallen, auch wenn man ihn am liebsten schütteln würde, bis er zur Besinnung kommt, gerade dann und dann vor allem. Jenseits der Meinungen und dem Streit über sie brauchen wir einen liebevollen*) Umgang auf der menschlichen Ebene, der uns erinnert, dass wir es mit Menschen zu tun haben. Wir müssen uns die Mühe machen, uns in Andersdenkende hineinzuversetzen, uns mit ihren Gedanken zu beschäftigen und dann hart und konsequent zu argumentieren. Die Menschen aber müssen wir als Menschen lieben. Ob Rechte, Linke, Klimawandel-Leugner, EU-Gegner, Impfverweigerer, Esoteriker, Materialisten, Kommunisten, Nationalisten, sie alle sind Menschen, die aus ihrer Sicht sinnvolle Ziele verfolgen und die nicht beleidigt oder als Person ausgegrenzt werden dürfen.


Die Tatsache, dass andere Menschen die Prinzipien von Meinungsfreiheit, Toleranz, Gewaltfreiheit und Menschlichkeit nicht leben, darf für uns kein Grund sein, unsere Prinzipien zu verraten. Natürlich darf man dem Gewalttäter keinen Raum für Gewalt, und dem Intoleranten keinen Raum für Intoleranz bieten. Aber unterschiedliche Meinungen hat es immer gegeben, durch das Internet prallen sie stärker aufeinander als je zuvor.


Wo man früher für Toleranz und Vielfalt eintreten konnte, ohne dass es persönlich etwas „kostete“, erfährt man heute oft psychische, soziale oder sogar physische Gewalt. Unternehmern wird geraten, sich nicht zu gesellschaftlichen Themen zu äußern, weil sie sonst Boykottaufrufe befürchten müssen, Angestellte verbergen ihre Meinung, weil sie Angst vor Repressionen haben. Es wird dringend Zeit, Meinungsfreiheit und Toleranz durch einen liebevollen*) Umgang auf der menschlichen Ebene zu ergänzen. Man darf nicht hassen, und man darf Andersdenkende weder mit Gewalt, noch durch Mobbing, noch durch soziale Ausgrenzung bestrafen. Und gleichzeitig müssen Gewalt und Intolerant geächtet werden.


Es hat übrigens keiner gesagt, dass das leicht ist. Und mehr denn je gilt: Wir müssen reden.


*) Ja, da steht tatsächlich „liebevoll“. Denn das ist das Gegenteil von Hass

Das Essener Unperfekthaus ist ein Zentrum für freies Denken (mehr…). Weit über 1000 kreative Zeitgenossen aus 35 Ländern können hier solange ihren selbst gewählten Themen nachgehen, wie sie nicht befürchten müssen, psychisch, sozial oder physisch verletzt zu werden. Doch genau das ist gefährdet, weil manche Menschen sich ihrer Meinung so sicher sind, dass sie Grenzen überschreiten und andere verletzen.


Immer mehr Menschen verletzen Andersdenkende, obwohl das Nebeneinander verschiedener Denkmodelle Grundlage aller Wissenschaften ist:


  • Man darf wissenschaftliche Ergebnisse und selbst den Klimawandel in Zweifel ziehen, in Flüchtlingsströmen Gefahr oder Chance sehen, rechten oder linken Meinungen anhängen,…


Selbst die Religionen rufen ihre Anhänger dazu auf, niemals zu glauben, genauso sicher wie Gott zu wissen, was richtig und was falsch ist:


  • Deshalb wurden Adam und Eva aus dem Paradies geworfen,
  • deshalb bekennt jeder Moslem im Gebet, dass Allah größer ist als er selbst, und
  • deshalb lesen Juden in vielen Synagogen „wisse, vor wem Du stehst“.


Es sollte tabu sein, Menschen wegen ihrer Meinung zu bestrafen, zu hassen, oder irgendwie in ihrem Menschsein anzugreifen. Wer Andersdenkende mit Worten, Bildern oder sonstwie als Mensch lächerlich macht, sollte genauso kritisiert werden wie derjenige, der andere mit Fäusten verletzt. Wir möchten dazu beitragen, dass Gräben in der Gesellschaft überwunden werden, dass sich jede(r) traut, über seine Meinung zu diskutieren, und dass es uncool wird, Andersdenkende in irgendeiner Weise psychisch, physisch oder sozial zu verletzen. Argumente sind ok, aber Hass und Angriffe auf die Person als Ganzes sollten tabu werden:


  • „Da hast Du aber eine sehr falsche und gefährliche Meinung, weil…“ ist ok, weil es die Person stehen lässt und nur die Meinung kritisiert
  • „Du bist dumm und gefährlich“ ist nicht ok, weil es die Person als Ganzes verletzt
  • „Ich werde dafür sorgen, dass niemand mehr mit Dir redet“ ist nicht ok, weil es die Person sozial verletzt.


Das geltende Recht setzt unserem Streiten Grenzen. In diesem Rahmen müssen wir miteinander gewaltfrei klarkommen – und das betrifft nicht nur physische, sondern auch psychische und soziale Gewalt. Wer keine Lust auf Diskussionen hat, kann sich ebenso heraushalten wie diejenigen, die sich dem anderen argumentativ nicht gewachsen fühlen und befürchten, ihm eine Plattform zu bieten. Immer aber müssen wir unterscheiden können zwischen liebevollem, hilfsbereitem Umgang auf der menschlichen Ebene und harter, ehrlicher Auseinandersetzung in der Sache.

Share by: